Geist und Materie
Erstes Kapitel: Die physikalischen Grundlagen des Bewußtseins
Das Problem
Die Welt ist ein Konstrukt aus unseren Empfindungen, Wahrnehmungen, Erinnerungen. Zwar ist es bequem, sie uns an und für sich einfach schlechthin vorhanden zu denken. Aber sie ist anscheinend nicht schon durch ihr bloßes Vorhandensein auch wirklich manifest. Das Manifestwerden der Welt ist an sehr spezielle Vorgänge in sehr speziellen Teilen eben dieser Welt gebunden, nämlich an gewisse Vorgänge in einem Gehirn. Das ist ein außerordentlich merkwürdiges Bedingungsverhältnis, und man kann nicht umhin, sich zu fragen: durch welche besonderen Eigenschaften sind diese Gehirnvorgänge ausgezeichnet, daß gerade sie die Manifestation herbeiführen? Läßt sich vermuten; welchen materiellen Vorgängen diese Fähigkeit zukommt, welchen nicht? Einfacher ausgedrückt: welche materiellen Vorgänge sind direkt mit Bewußtsein verknüpft?
Ein Verstandesmensch
mag geneigt sein, dieFrage kurz abzutun. Nach unserer eigenen Erfahrung
und nach Analogieschlüssen - für die höheren Tiere (so wird
er sagen) sei Bewußtsein mit einer gewissen Art von Vorgängen
in der organisierten, lebenden Materie verknüpft, mit gewissen Nervenfunktionen.
Wie weit es in
der Tierreihe zurück
oder ,,hinab“ Bewußtsein gibt, wie es in seinen ersten Stadien etwa
be-schaffen sein möge, das sei eine überflüssige Spekulation;
eine nicht zu beantwortende Frage; man solle das müßigen Träumern
überlassen. Noch müßiger sei es, sich Gedanken darüber
zu machen, ob etwa auch andere Vorgänge, auch in der unorganischen
Materie, oder gar ob alles Geschehen überhaupt mit irgendwelcher Art
von Bewußtsein verknüpft sei. Das wäre Phantasterei, ebenso
unwiderlegbar wie unbeweisbar, also ohne jeden Erkenntniswert.
Wer dieses Beiseiteschieben der Frage akzeptiert, sollte gesagt bekommen, welche ungeheure Lücke er damit in seinem Weltbild unausgefüllt läßt. Das Auftreten von Nervensubstanz und von Gehirnen ist ein sehr spezielles Ereignis in der Organismenreihe, dessen Sein und Bedeutung wir recht gut verstehen. Es ist eine spezielle Form von Anpassungsmechanismus, wodurch sein Träger auf Alternativen in einer variablen Umwelt jeweils ,,günstig“ reagiert. Es ist der komplizierteste und kunstreichste unter allen solchen Mechanismen, dem, wenn er vorhanden ist, eine überragende, eine beherrschende Stellung zukommt, aber es ist nicht sui generis. Große Gruppen, vor allem die Pflanzen, erreichen sehr ähnliches auf ganz andere Weise.
Sollen wir uns nun bereit finden, zu glauben, daß diese ganz spezielle Wendung in der Entwicklung der höheren Tiere, diese Wendung, die füglich auch hätte unterbleiben können, notwendig war, damit die Welt sich selbst im Lichte der Bewußtheit aufleuchte? Wäre sie ohne das ein Spiel vor leeren Bänken geblieben, für niemanden vorhanden, und darum recht eigentlich nicht vorhanden? Das scheint mir der Bankrott eines Weltbildes. Hier einen Ausweg zu suchen, dürfen wir uns nicht hindern lassen, sollte auch rationalistische Weisheit darüber lächeln oder spotten.
Nach Spinoza ist jedes Einzelding eine Modifikation der unendlichen Substanz, das ist Gottes. Es drückt sich in jedem seiner Attribute aus, im besonderen in dem der Ausdehnung und in dem des Denkens. Ersteres ist seine körperliche Existenz in Raum und Zeit, letzteres - wenn es sich um den lebendigen Körper eines Menschen oder Tieres handelt - sein Geist (mens). Aber auch alles leblos Körperliche ist für Spinoza auch ,,ein Gedanke Gottes“. Wir stoßen auf den kühnen Gedanken einer Allbeseelung; freilich nicht zum ersten Male; schon zweitausend Jahre zuvor hatte dieser Gedanke der jonischen Philosophenschule (Thales, Anaximander, Anaximenes) den Beinamen der Hylozoisten eingetragen. Nach Spinoza hat der geistvolle Gustav Theodor Fechner sich nicht gescheut, die Pflanzen zu beseelen, die Erde als ‘Weltkörper und die Sterne. Ich stimme diesen Phantasien nicht zu, aber ich möchte nicht darüber zu Gericht sitzen, wer der tiefsten Wahrheit näher kam, Fechner oder die Bankrotteure der Rationalistik.
Der Versuch einer Antwort
Man sieht, jede versuchte Erweiterung, alles Nachdenken darüber, ob man auch anderen als Nervenprozessen ein Bewußtseinskorrelat zuordnen dürfe oder solle, führt auf unprüfbare Spekulationen. Wir betreten sichereren Boden, wenn wir den umgekehrten Weg versuchen. Nicht alle Vorgänge im Nervensystem, ja bei weitem nicht alle Gehirnprozesse sind von Bewußtsein begleitet. Es gibt solche, die es nicht sind, obwohl sie physiologisch und biologisch den ,,bewußten” vollkommen gleichen, sowohl hinsichtlichihres erst zentripetalen, dann zentrifugalen Verlaufes als auch in ihrer biologischen Bedeutung als Reaktionsregulatoren gegenüber einer wechselnden Imwelt. Hierher gehören einmal die reflektorisch-regulativen Prozesse in den Rückenmarksganglien und in dem ihnen unterstellten Teil des Nervensystems, dann aber auch - wie wir sogleich näher überlegen wollen - sehr viele reflektorische Vorgänge, die zwar über das Großhirn führen, aber doch nicht oder kaum mehr ins Bewußtsein fallen- denn die Trennung ist in allen diesen Fällen nicht scharf, es gibt Übergänge aller Stufen von völlig bewußt zu ganz unbewußt. Indem wir diese verschiedenen Repräsentanten von Nervenprozessen einer Prüfung unterziehen, die einander physiologisch sehr ähnlich sind und innerhalb unseres eigenen Soma verlaufen, sollte es nicht allzu schwer fallen, durch Beobachtung und Nachdenken die unterscheidenden, charakteristischen Bedingungen ausfindig zu machen.
Der Schlüssel scheint mir nun in der wohlbekannten Tatsache zu liegen, daß ein jeder Erscheinungsablauf, an dem wir bewußt und etwa auch handelnd mitbeteiligt sind, allmählich der Bewußtseinssphäre entsinkt, wenn er sich sehr oft ganz gleichartig wiederholt. Er wird in sie aber wieder emporgerissen, wenn bei einer neuen Wiederholung der den Prozeß einleitende Anlaß oder die in der weiteren Folge angetroffene äußere Situation ein klein wenig anders ist als bisher. Aber auch dann treten, zunächst jedenfalls, nur jene Modifikationen oder Differentiale ins Bewußtsein, durch die der neue Ablauf sich von früheren unterscheidet und vielleicht ein neues ,,Sichbesinnen“ nötig machen. Ich möchte die allgemeine Überlegung jetzt noch nicht durch ein Dutzend Beispiele unterbrechen, die jeder aus seiner eigenen Erfahrung hundertfältig beibringen kann.
Das allmähliche
Unbewußtwerden hat für die ganze Struktur unseres Geisteslebens
eine ungeheure Bedeutung. Dieses basiert ganz und gar auf der Einübung
durch Wiederho1ung - von Richard Semon zu dem allgemeineren
Begriff der Mneme erweitert,
auf den wir noch zu sprechen kommen. Erstmalige Erfahrung, die sich nicht
wiederholt, ist biologisch bedeutungslos. Nur die Erlernung eines zweckmäßigen
Funktionierens angesichts einer
Situation, die sich
immer wieder, meistens periodisch darbietet und jeweils die gleiche Reaktion
des Organismus zu seiner Behauptung nötig macht, hat biologischen
Wert. Aus eigener innerer Erfahrung wissen wir nun folgendes. Bei den ersten
Wiederholungen tritt ein neues Element ins Bewußtsein, das ,,schon
dagewesen“ (das ,,Notal“, wie Richard Avenarius es nennt). Bei öfterer
Wiederholung aber werkelt sich der ganze Ablauf immer besser ein, wird
zusehends ,,uninteressanter“ ; die Reaktion wird in demselben Maße
zuverlässiger wie sie unbewußter wird. Das Kind rezitiert sein
Gedicht oder spielt sein Klavierstückchen schon ,,fast im Schlaf“
; wir gehen den gewohnten Weg zur Arbeitsstätte, biegen in die Seitenstraße
ein, überqueren den Fahrdamm immer
an derselben Stelle
usw. -denken dabei an ganz andere Dinge. Tritt ein Situationsdifferential
ein (ist z.B. die Straße an der Stelle aufgerissen und wir müssen
sie umgehen), so drängt das ins Bewußtsein, sinkt aber bald
unter die Schwelle, wenn es sich öfter wiederholt. Auch ,,Weggabelungen“
werden ebenso fixiert. Wenn die Situation wechselnde Varianten hat - wir
haben zuweilen an der Universität zu tun, zuweilen im physikalischen
Institut -, wählen wir die zweckentsprechende Reaktionsvariante (etwa
Einbiegen in die Seitenstraße oder geradeaus weitergehen) ebenfalls
ganz automatisch, völlig unbewußt. So lagern sich Differentiale,
Varianten, Gabelungen in unübersehbarer Fülle übereinander,
aber nur die rezentesten, denen gegenüber die lebende Substanz nicht
in Einübung begriffen ist, dringen ins Bewußtsein. Dieses ist,
so könnte man bildlich sagen, der Instruktor, welcher die Ausbildung
der lebenden Substanz überwacht, so oft neue Probleme zu lösen
sind, aber den Schüler bei allen den Aufgaben sich selbst überläßt,
für die er hinreichend geübt ist. Ich möchte jedoch dreimal
unterstreichen, daß ich das nur bildlich, gleichnisweise meine. Tatsache
ist nur, daß Neusituationen und die auf sie folgenden Neureaktionen
im Lichte des Bewußtseins stehen, alteingeübte dagegen nicht
mehr.
Die hunderte von kleinen
Handgriffen und Leistungen des Alltagslebens haben wir alle erlernen müssen,
und zwar oft mit großer Mühe. Etwa die frühen Gehversuche
des Kindes sind erheblich bewußtseinsbetont, Jubel folgt oft dem
ersten Gelingen. Der Erwachsene schnürt sich die Stiefel, knipst das
elektrische Licht an,
entkleidet sich des
Abends, ißt mit Gabel und Messer usw. - Ergebnisse mühsamen
Lernens, die ihn doch, einmal gekonnt, nicht mehr im geringsten in den
Gedanken, denen er gerade nachhängt, stören. Das kann zu den
komischsten Fehlleistungen führen. Von einem berühmten Mathematiker
geht die Mär, daß seine Gattin ihn einmal nach dem Eintreffen
einer in sein Haus geladenen Abendgesellschaft - bei gelöschtem Licht
im Bett liegend antraf! Was war los? Er war ins Schlafzimmer gegangen,
um einen frischen Hemdkragen anzulegen. Aber das Ablegen des alten hatte
bei dem in Gedanken Vertieften die ganze Kette der gewohnten Folgereaktionen
ausgelöst.
Dieser aus der 0 n t o g e n i e unseres Geisteslebens sattsam bekannte Sachverhalt scheint mir auf die Phylogenie der unbewußten Nervenfunktion ein Licht zu werfen, wie sie etwa den Herzschlag, die Peristaltik der Eingeweide usw. regeln. Einer nahezu konstanten oder regelmäßig wechselnden Situation gegenüber, sind sie wohl und sicher eingeübt und darum längst der Bewußtseinssphäre entsunken. Auch hier finden wir Zwischenstufen, wie etwa die Atmung, die meist unbewußt geschieht, aber durch Situationsdifferentiale, etwa in rauchiger Luft oder bei asthmatischen Beschwerden, differenziert und bewußtseinsbetont werden kann; oder der Tränenausbruch bei Trauer, Freude, körperlichem Schmerz, der zwar bewußt aber kaum willentlich beeinflußbar ist. Auch an komischen mnemisch vererbten Fehlreaktionen fehlt es nicht, wie das Sträuben der Haare im Entsetzen, das Ausbleiben der Speichelabsonderung bei großer Aufregung, Dinge, die wohl einmal ,,einen Sinn hatten“, ihn aber jetzt verloren haben.
Ob sie dem nächsten Schritt, der Ausdehnung auf andere als Nervenprozesse, sogleich zustimmen werden, bezweifle ich. Darum will ich ihn hier nur kurz streifen, obwohl er mir persönlich der wichtigste ist. Denn erst durch ihn fällt einiges Licht auf die eingangs aufgeworfene Frage: Welche materiellen Vorgänge sind mit Bewußtsein verknüpft? Die Antwort, die ich vorschlage, ist diese: Was wir bisher als eine Eigenschaft der nervösen Vorgänge hingestellt haben, ist eine Eigenschaft des organischen Geschehens überhaupt, nämlich mit Bewußtsein verknüpft zu sein, sofern es neu ist.
Die ganze Ontogenie, nicht nur des Gehirns sondern des ganzen Soma, ist, in der Terminologie Richard Semons, die mnemisch gut eingewerkelte Wiederholung eines Tausende Male stattgehabten Vorgangs. Wie wir von uns selbst wissen, sind die ersten Stadien unbewußt, zunächst im Mutterleib, aber auch hernach noch werden die ersten Wochen und Monate des Lebens größtenteils verschlafen. Dabei macht das Kind die altgewohnte Entwicklung durch, bei von Fall zu Fall relativ konstanten äußeren Bedingungen. Nur soweit Organe vorhanden sind und allmählich in Wechselwirkung mit der Umwelt treten, Organe, welche speziellen, wechselnden Situationen gegenüber ihre Funktion anpassen, von der Umwelt beeinflußt, eingeübt, in spezieller Weise umgewandelt werden, nur soweit ist das weitere organische Geschehen vom Bewußtsein begleitet. Ein solches Organ besitzen nun wir höheren Wirbeltiere in unserem Nervensystem, und fast nur in ihm. An seine, wechselnden Umweltbedingungen sich anpassenden, Funktionen ist Bewußtheit geknüpft. Es ist die Stelle, wo wir in artlicher Weiterentwicklung begriffen sind, bildlich gesprochen die Vegetationsspitze unseres Stammes. Allgemein möchte ich meine Vermutung so zusammenfassen: Bewußtheit ist mit dem Lernen der organischen Substanz verbunden; das organische Können ist unbewußt.
Ethik
Auch ohne diese letzte Verallgemeinerung, die mir zwar sehr wichtig, Ihnen aber wahrscheinlich noch etwas dubios vorkommt, scheint mir die hier vertretene Theorie der Bewußtheit den Weg zu einem naturwissenschaftlichen Verständnis der Ethik zu eröffnen. Zu allen Zeiten und bei allen Völkern bildet den Untergrund aller ernst zu nehmenden Tugendlehre die Selbstüberwindung. Die Tugendlehre tritt stets als Forderung auf, als ein ,,Du sollst“, das sich dem positiven Wollen entgegenstellt. Woher rührt dieser eigentümliche Gegensatz zwischen dem ,,Ich will“ und dem ,,Du sollst“? Ist es nicht ganz ungereimt, daß man mir zumuten will, primitive Gelüste zu unterdrücken, mein Selbst zu verleugnen, anders zu sein als ich eigentlich bin? In der Tat finden wir diese Zumutung gerade in unseren Tagen oft genug verspottet. ,,Ich bin nun einmal so wie ich bin. Platz meiner Individualität! Freie Entwicklung den mir von der Natur eingepflanzten Trieben! Alles Soll, das sich dem entgegenstellt, ist Unsinn - Pfaffentrug. Gott ist Natur, und Natur wird mich wohl so gebildet haben, wie sie mich haben will.“ Solche Schlagworte hört man öfter. Ihrer schlichten und einleuchtenden Brutalität ist schwer zu begegnen. Kants Imperativ ist eingestandenermaßen unbegreiflich.
Aber zum Glück ist
die naturwissenschaftliche Begründung wurmstichig. Unser Einblick
in das Werden der Organismen läßt sehr wohl verstehen, daß
unser bewußtes Leben ein fortgesetzter Kampf mit unserem primitiven
Ich - ich sage nicht sein soll, sondern notwendigerweise ist. Unser natürliches
Selbst, unser primitiver Wille mit seinen eingepflanzten Trieben ist nämlich
das Bewußtseinskorrelat des Vermächtnisses unserer Ahnen. Wir
entwickeln uns, wir stehen an der Spitze der Generationen, und so vollzieht
sich an jedem Tag unseres Lebens ein Stück der noch in vollem Gang
befindlichen Evolution unserer Art. Wohl mag der einzelne Lebenstag, ja
jedes einzelne Individualleben nur ein geringfügiger Meißelschlag
an dem ewig unfertigen Bild unserer Spezies sein. Aber auch die gesamte
gewaltige Evolution, die hinter uns liegt, setzt sich ja nur aus
Myriaden solcher unbedeutenden
Meißelschläge zusammen. Das Material für die Umbildung,
was sie überhaupt möglich macht, sind freilich die erblichen
Mutationen. Aber für die Auslese unter ihnen, durch Zuchtwahl, ist
das Verhalten des Trägers der Mutation, sind dessen Lebensgewohnheiten
von ausschlaggebender Bedeutung. Anders wäre die Entstehung der Arten,
wären die oft scheinbar zielstrebigen Wege, denen sie folgt, in den
zur Verfügung stehenden Zeiträumen nicht zu verstehen.
Und so haben wir bei jedem Schritt, sozusagen an jedem Tag, etwas an der Form, die wir eben noch besaßen, abzuändern, zu überwinden, zu zerstören und durch Neues zu ersetzen. Der Widerstand unseres primitiven Willens ist das psychische Korrelat des Widerstandes der bestehenden Form gegen den umbildenden Meißel. Denn wir sind Meißel und Form, Überwinder und überwundene zugleich - es ist eine wirkliche, beständige Selbstüberwindung.
Aber ist es nicht gar zu absurd, zu denken, daß dieser Prozeß der Artentwicklung direkt und bedeutungsvoll ins Bewußtsein falle, da er doch mit ungeheurer Langsamkeit sich vollzieht, gemessen an der Spanne eines Individuallebens, ja selbst von historischen Epochen? Ist er nicht etwas, das nur so unbemerkt nebenherläuft?
Nein. Im Lichte unserer früheren Ausführungen nicht. Sie gipfelten ja darin, daß Bewußtsein mit denjenigen physiologischen Vorgängen verknüpft ist, die durch Wechselwirkung mit einer wechselnden Umwelt in Umbildung begriffen sind. Und zwar sollten allein diejenigen Modifikationen ins Bewußtsein treten, die noch in Einübung begriffen sind - um viel später einmal, erblich fixiert, zum eingeübten und unbewußten Artbesitz zu werden. Bewußtsein ist ein Phänomen der Evolutionszone. Diese Welt erscheint sich selbst nur dort, wo und nur insofern als sie sich entwickelt, neue Formen gebiert. Stellen des Stillstandes entgleiten dem Lichte des Bewußtseins, versteinern, erscheinen nur mehr mittelbar im Zusammenspiel mit Stellen der Evolution.
Gibt man das zu, so folgt, daß Bewußtsein und Zwiespalt mit sich selbst unzertrennlich verbunden, ja daß sie sozusagen einander proportional sein müssen. Das klingt paradox, läßt sich aber durch das Zeugnis der Weisesten aller Völker und Zeiten belegen. Männer und Frauen, denen diese Welt in ungewöhnlich intensivem Grade der Bewußtheit aufleuchtete und die durch ihr Leben und durch ihr Wort mehr als andere am Kunstwerk der menschlichen Form gebildet und umgebildet haben, bezeugen zugleich durch Rede und Schrift oder durch ihr Leben selber, daß sie mehr als andere von diesem inneren Zwiespalt zerrissen waren. Ein Trost für jeden, der selber unter ihm stöhnt. Ohne ihn entsteht nichts von bleibendem Wert.
Bitte mißverstehen Sie mich nicht. Glauben Sie nicht, daß ich den Gedanken der Entwicklung unserer Art auf ein höheres Ziel hin als ein wirksames M o t i v der Tugendforderung zu propagieren hoffe. Das ist deshalb aussichtslos, weil es ja selbst ein uneigennütziges Ziel ist, das sozusagen die Tugendhaftigkeit schon voraussetzt! Das ,,Soll“ des Sittengesetzes, den Kantschen Imperativ, kann ich sowenig begründen wie irgendein anderer. Das Sittengesetz ist einfach da, es ist allgemein anerkannt, es Pflichten ihm auch diejenigen bei, die ihm meistens nicht nachleben, welches ja die Mehrzahl ist. In diesem rätselhaften Vorhandensein sehe ich aber ein Anzeichen dafür, daß wir am Beginn einer biologischen Umbildung von egoistischer zu altruistischer Einstellung stehen, einer Umbildung des Menschen zu einem animal sociale. Für das einzeln lebende Tier ist der Egoismus eine arterhaltende Tugend, wird aber artschädlich für das in Gemeinschaft lebende. Eine Tierart, die zur Staatenbildung schreitet, ohne den Egoismus einzuschränken, wird zugrunde gehen. Phylogenetisch weit ältere Staatenbildner, wie die Ameisen, Termiten, Bienen, haben ihn längst abgelegt. Dagegen ist bei ihnen die nächste Stufe, der Nationalegoismus, oder kurz Nationalismus, noch voll im Schwung. Eine Arbeitsbiene, die sich zu einem fremden Volk verirrt, wird sofort ermordet.
Beim Menschen scheint nun hier ein Ablauf im Gange, der auch sonst nicht selten ist. über der ersten Modifikation zeigen sich schon deutliche Spuren einer zweiten in ähnlicher Richtung, noch bevor die erste auch nur halb vollendet ist. Wir sind noch ziemliche Egoisten, aber viele von uns sehen doch schon ein, daß auch der Nationalismus ein abzulegendes Laster ist. Dabei wird vielleicht etwas sehr Merkwürdiges in Erscheinung treten. Nämlich der zweite Schritt, die Befriedigung des Völkerkampfes, mag erleichtert werden durch den Umstand, daß der erste, die Ablegung des Egoismus, noch bei weitem nicht vollendet ist, so daß egoistische Motive noch volle Zugkraft haben. Die furchtbare neue Angriffswaffe bedroht jeden einzelnen von uns und läßt ihn die Völkerbefriedung aus ganz egoistischen Gründen herbeisehnen. Wären wir Bienen, Ameisen oder lakedämonische Krieger, für die es persönliche Furcht nicht gibt und Feigheit das Schimpflichste war, so würden die Kriege weitergehen. Aber zum Glück sind wir bloß Menschen - und feig.
Die Überlegungen
und Schlüsse dieses Kapitels sind für mich nichts Neues; sie
beschäftigen mich schon länger als dreißig Jahre. Ich habe
sie nie aus den Augen verloren, aber ich habe mir ernste Gedanken gemacht,
ob sie nicht abgelehnt werden müßten, weil sie scheinbar auf
der ,,Vererbung erworbener Eigenschaften“ beruhen, also auf dem Lamarckismus.
Diesen zu bejahen, sind wir nicht geneigt. Aber auch wenn wir die Vererbung
erworbener Eigenschaften ablehnen, also Darwins Evolutionstheorie annehmen,
finden wir, daß das Verhalten der Individuen einer Spezies einen
sehr wesentlichen Einfluß auf die allgemeine Richtung der Evolution
hat und auf diese Weise einen Schein-Lamarckismus vortäuscht. Das
wird im nächsten Kapitel erklärt und mit der Autorität von
Julian Huxley untermauert. Doch wurde das Kapitel im Hinblick auf ein etwas
anderes Problem verfaßt und nicht eigentlich zur weiteren Begründung
der eben vorgetragenen Gedanken.
Literatur:
Erwin Schrödinger, Geist und Materie, Zürich 1989