[Quelle: Mauthner-Gesellschaft/Verein der Sprachkritiker]

Erwin Schrödinger

Geist und Materie


 

Drittes Kapitel: Objektivierung

Vor ungefähr zehn Jahren (1948) - in einer Arbeit, die in den 'Acta Physika Austriaca' erschienen ist - lenkte ich die Aufmerksamkeit auf zwei sehr allgemeine Prinzipien, welche unserer naturwissenschaftlichen Denkweise zugrunde liegen: das Prinzip der 'Verständlichkeit der Natur' und das Prinzip der 'Objektivierung'. Das erste ist dies: 'daß die Natur verstanden werden kann'. Darüber will ich jetzt weniger sagen: Das Erstaunlichste ist, daß es überhaupt notwendig war, es aufzufinden. Es stammt eigentlich von der milesischen Philosophenschule des 6.Jahrhunderts v.Chr. Seit damals ist es unberührt, unverändert geblieben, wenn es auch gelegentlich verwässert wird - aber immer nur vorübergehend. Ich habe mir vorgenommen, hier das zweite Prinzip zu erörtern, welches ich 'Objektivierung' genannt habe.

Damit meine ich genau dasselbe, was auch oftmals die 'Hypothese der realen Außenwelt' genannt wird. Ich behaupte, es handelt sich dabei um eine gewisse Vereinfachung, die wir einführen, um das unerhört verwickelte 'Problem der Natur' zu meistern. Ohne es uns ganz klarzumachen und ohne dabei immer ganz streng folgerichtig zu sein, schließen wir das 'Subjekt der Erkenntnis' aus aus dem Bereich dessen, was wir an der Natur verstehen wollen. Wir treten mit unserer Person zurück in die Rolle eines Zuschauers, der nicht zur Welt gehört, welch letztere eben dadurch zu einer 'objektiven' Welt wird. Dieses Vorgehen wird durch folgende Umstände 'verschleiert'.

Erstens einmal gehört mein eigener Leib - an den mein Geistesleben so unmittelbar und eng verknüpft ist - mit zu dem 'Objekt', das ich aus meinen Sinnesempfindungen, Wahrnehmungen und Erinnerungen konstruiere - mein Leib gehört mir zur 'realen Außenwelt'. Zweitens gehören auch die Leiber anderer Wesen mit zu dieser objektiven Welt.

Nun habe ich gute Gründe zu meinen, daß jene fremden Leiber auch mit Bewußtsein verbunden sind, daß jeder sozusagen der Sitz eines dem meinen ähnlichen Bewußtseins ist. Ich kann keinem vernünftigem Zweifel Raum geben, daß auch diese fremden Bewußtseinssphären in irgendeinem Sinn existieren, aktuell sind, obwohl ich allerdings keinen unmittelbaren subjektiven Zugang zu ihnen habe. So bin ich also geneigt, diese fremden Bewußtseinssphären selber als etwas Objektives anzusehen, als einen Teil der realen Außenwelt. Ich schließe dann rasch, daß auch 'ich selbst' einen Teil dieser realen Außenwelt bilde. Ich versetze sozusagen mein eigenes wahrnehmendes Selbst (welches 'diese Welt' als geistiges Produkt konstruiert hat) in sie zurück - mit dem Ergebnis, daß als logische Folge dieser ganzen 'Kette von Fehlschlüssen' nunmehr die Hölle los ist - eine Hölle von unerträglichen logischen Antinomien.

Ich will die zwei schreiendsten Widersprüche hervorheben, die sich aus dem Umstand ergeben, daß wir uns nicht bewußt sind, daß ein einigermaßen zufriedenstellendes Weltbild bloß erreicht worden ist, um einen hohen Preis, nämlich so, daß 'jeder sich selbst' aus dem Bild ausgeschlossen hat, indem er in die Rolle eines unbeteiligten Beobachters zurückgetreten ist.

Die erste dieser Antinomien ist unser Erstaunen, unser Weltbild farblos, kalt, stumm zu finden. Farbe und Ton, heiß und kalt sind unsere unmittelbaren Sinneseindrücke. Was Wunder, daß sie einem Weltmodell fehlen, aus dem wir unsere geistige Persönlichkeit ausschließen mußten?!

Die zweite Antinomie ist unser völlig erfolgloses Suchen nach der Stelle, wo der Geist auf die Materie wirkt - und umgekehrt. Die materielle Welt konnte bloß konstruiert werden um den Preis, daß das Selbst, der Geist, daraus entfernt wurde. Der Geist (mind, mens) gehört also nicht dazu und kann darum selbstverständlich die materielle Welt weder beeinflussen noch von ihr beeinflußt werden. (Schon der große Spinoza hat das in einem kurzen, klaren Satz ausgesprochen).

"Nec corpus mentem ad cogitandum, nec mens  corpus at motum neque ad quietem neque(si quid est) aliud determinare potest (Ethices P. III, prop. 2),"

Ebensowenig vermag der Körper den Geist zum Denken zu veranlassen wie umgekehrt der Geist den Körper zur Ruhe oder Bewegung oder zu sonstwas, wenn es es geben sollte.


Erinnern wir uns an die "zwei Schreibtische" EDDINGTONs - den einen aus dem Alltagsleben vertrauten substantiellen, an welchem er sitzt, den er vor sich sieht und auf den er die Arme stützt - und den naturwissenschaftlichen, dem nicht nur alle konkreten Sinnesqualitäten abgehen, sondern der auch außerdem äußerst abstrakt ist. Besteht der doch überwiegend aus leerem Raum, in welchem bloß winzig kleine Atomkerne und Elektronen in unermeßlicher Zahl umeinanderwirbeln usw. An die eindrucksvolle Gegenüberstellung des lieben alten Hausmöbels und des physikalischen Modells knüpft er die folgende Zusammenfassung:

Soweit EDDINGTON.

Zu beachten ist, daß der bedeutsame jüngste Fortschritt nicht vielleicht darin besteht, daß die Welt des Physikers diesen schattenhaften Charakter angenommen hat. Sie hatte ihn sicherlich seit Demokrit, aber wir waren uns dessen nicht bewußt. Wir dachten, daß wir es mit der Welt selber zu tun hätten. Erst in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts kam es auf, daß man von den begrifflichen Konstruktionen der Naturwissenschaft als von 'Modellen' oder 'Bildern' sprach.

Etwa ein Jahrzehnt nach EDDINGTONs "Nature of the physical World" (1940) erschien von SHERRINGTON "Man on his Nature". Durch das ganze Buch geht ein erliches Suchen nach positiven Beweisen für die Wechselwirkung zwischen Materie und Bewußtsein - Körper und Geist, wenn sie wollen (mind, matter). Ich betone 'ehrliches' Suchen, denn es bedarf eine unerhört ernsthaften und aufrichtigen Kraftanstrengung, es bedarf der Unparteilichkeit eines Heiligen, nach etwas zu suchen, wovon man im vornhinein tief überzeugt ist, daß es sich nicht finden läßt, weil es halt, allem populären Glauben zum Trotz, nicht existiert. Das Ergebnis faßt er schließlich in die Worte zusammen:

In meinen eigenen Worten möchte ich sagen: Der Geist baut die reale Außenwelt der Naturphilosophie (wie auch die Welt des Alltags) ausschließlich aus seinen eigenen, d.i. aus geistigem Stoff auf. Der Geist kann mit dieser wahrhaft gigantischen Aufgabe nicht anders fertig werden, als mittes des vereinfachenden Kunstgriffs, daß er sich selbst ausschließt, sich aus seiner begrifflichen Schöpfung zurückzieht. Daher enthält dieselbe ihren Schöpfer nicht.

Es liegt also der folgende merkwürdige Sachverhalt vor. Wahren alles Material zum Weltbild von den Sinnen qua Organen des Geistes geliefert wird, während das Weltbild selber für einen jeden ein Gebilde seines Geistes ist und bleibt und außerdem keine nachweisbare Existenz hat, bleibt doch der Geist selber in dem Bilde ein Fremdling, er hat darin keinen Platz, ist nirgends darin anzutreffen.

Wir machen uns das gewöhnlich nicht klar. Wir sind so sehr gewohnt, die Persönlichkeit eines Menschen - übrigens ganz ebenso die eines Tiers - eben doch in das Innere seines Leibes hineinzudenken, daß es uns erstaunt, zu erfahren, und wir es nur zweifelnd und zögernd glauben, daß sie sich dort in Wirklichkeit nicht vorfindet. Wir versetzen sie in den Kopf, ein gut Stück hinter die Mitte der beiden Augen. Von dort sieht sie uns, je nachdem, mit verstehenden, liebenden, seelenvollen, mißtrauischen, zornigen Blicken an.

Ist es eigentlich je aufgefallen, daß das Auge das einzige unter den Sinnesorganen ist, dessen rezeptiven Charakter der naive Mensch verkennt und, das Verhältnis umkehrend, viel mehr geneigt ist, sich vom Auge Sehstrahlen ausgehend zu denken als Lichtstrahlen von den Gegenständen auf es fallend? Man trifft diesen "Sehstrahl" nicht selten in Comic-Zeichnungen an, ja selbst in älteren populärphysikalischen Skizzen, als eine punktuierte Gerade, die vom Auge auf das Objekt zielt, was durch eine auf letzteres weisend Pfeilspitze am entfernten Ende angezeigt wird.

Denken wir aber nur an die "leuchtenden Augen" mit denen ein Kind uns "anstrahlt", dem ein neues Spielzeug gebracht wurde; und dann lasse den Physiker dir sagen, daß in Wirklichkeit von diesen Augen nichts ausgeht - sie ihrerseits werden ständig von Lichtstrahlen getroffen - das ist ihre Funktionsweise. In Wirklichkeit. Sonderbare Wirklichkeit. In ihr scheint doch etwas zu fehlen.

Es wird uns ganz schwer, uns klarzumachen, daß die Lokalisierung der Persönlichkeit im Leibe nur symbolisch, nur für den praktischen Gebrauch bestimmt ist. Wenn wir mit den Kenntnissen, die wir davon haben, dem seelenvollen Blick ins Innere nachgehen, stoßen wir allerdings auf ein überaus interessantes, unerhört verwickeltes Getriebe: Milliarden von Zellen sehr spezialisierten Baues und unübersehbar komplizierter, jedoch augenscheinlich auf weitgehende gegenseitige Kommunikation abzielender Anordnung; hämmernde elektrische Stromstöße, die unablässig, aber in fortwährend rasch wechselnder Verteilung pulsieren, von Nervenzelle zu Nervenzelle fortgeleitet, wobei in jedem Nu Zehntausende von Kontakten gebildet und wieder blockiert werden; chemische Umsetzungen, die damit Hand in Hand gehen; all dies und anderes treffen wir an und entdecken schließlich vielleicht mehrere Strombündel, die durch lange Zellfortsätze, motorische Nervenfasern, zu gewissen Armmuskeln fließen, welche uns daraufhin zögernd und zitternd die Hand zum langen Abschied reichen, während andere Strombündel eine Drüsensekretion anregen und Tränen das traurige Auge umfloren.

Nirgends aber auf diesem ganzen Wege treffen wir die Persönlichkeit an, stoßen wir nirgends auf das Herzweh und die bange Sorge, die diese Seele bewegen und wovon die Wirklichkeit uns doch so gewiß ist, wie wenn wir sie selbst erlitten - und das tun wir ja auch.

Das Bild, das die physiologische Analyse uns von irgendeinem anderen Menschen entwirft, und wär es unser nächster Freund, erinnert mich frappant an Poes Meisternovelle von der "Maske des roten Todes". Ein junger Prinz hat sich mit seinem Gefolge auf ein einsames Schloß zurückgezogen, um der furchtbaren Seuche zu entfliehen, die im Lande wütet und der "rote Tod" genannt wird. Nachdem die Herrschaften sich dort die ersten Tage der Abschließung auf diese und jene Art vertrieben haben, wird ein Tanzfest arrangiert, ein Maskenball, selbstverständlich nur für die Insassen des Schlosses. Eine der Masken, ein hochgewachsener Mann, hat sich tief verschleiert und ganz und gar in scharlachrot gekleidet. Er stellt ganz offenbar allegorisch die Seuche dar, den "roten Tod". Schon dieser freche Mutwille läßt jedermann erschaudern, außerdem weiß niemand, wer es ist, man fürchtet einen Eindringling, man weicht ihm aus, zieht sich von ihm zurück. Aber endlich, um den Bann zu brechen, nähert sich der roten Maske ein Verwegener, und mit plötzlichem kühnen Ruck reißt er Gesichtsmaske und Kopfschleier fort. Es zeigt sich, sie waren leer.

Nun, unsere Schädel sind nicht leer, aber was sich darin vorfindet, so interessant es ist, ist doch wahrhaftig nichts, wenn es um Gefühlswerte und das Erleben einer Seele geht. Dies gewahr zu werden, mag uns im ersten Augenblick erschüttern. Wir überwinden den Schrecken aber leicht, wenn wir bedenken, daß die Überlegung ja genauso auf uns selber zutrifft - und doch 'sind' wir. Bei tieferem Nachdenken liegt sogar ein Trost in dieser Erkenntnis. Wenn Sie vor dem entseelten Leichnam eines nahen Freundes stehen, den Sie schwer vermissen werden, ist es eher tröstlich zu wissen, daß dieser Leib 'nie wirklich' der Sitz seiner Persönlichkeit war, sondern nur symbolisch oder semantisch, nicht vielmehr als eine richtige Briefanschrift oder Telefonnummer.

All dies wurde gesagt von dem Standpunkt aus, daß wir die altehrwürdige Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt akzeptieren. Zwar müssen wir das im täglichen Leben "aus praktischen Gründen" tun, aber mir scheint, wir sollten sie im philosophischen Denken aufgeben. Es sind die gleichen Gegebenheiten, aus denen die Welt und mein Geist gebildet sind. Die Welt gibt es für mich nur einmal, nicht eine existierende 'und' eine wahrgenommene Welt. Subjekt und Objekt sind nur eines. Man kann nicht sagen, die Schranke zwischen ihnen sei unter dem Ansturm neuester physikalischer Erfahrungen ausgefallen; denn diese Schranke gibt es überhaupt nicht.

Literatur: Erwin Schrödinger, Geist und Materie, Zürich 1989