Sprache
und Wirklichkeit
in der
modernen Physik
Immer wieder in der Geschichte der Naturwissenschaften haben überraschende Entdeckungen und neue Ideen zu wissenschaftlichen Auseinandersetzungen geführt; sie haben polemische Veröffentlichungen entstehen lassen, die die neuen Ideen kritisieren, und solche Kritik ist oft für ihre Entwicklung durchaus nützlich gewesen. Aber diese Kontroversen haben fast nie vorher jenen Grad von Heftigkeit erreicht, den sie nach der Entdeckung der Relativitätstheorie, und in einem geringeren Grade auch nach der Quantentheorie, annahmen. In beiden Fällen sind die wissenschaftlichen Probleme schließlich sogar mit politischen Streitfragen verknüpft worden, und einige Physiker haben bei den politischen Methoden Zuflucht gesucht, um ihren Ansichten zum Sieg zu verhelfen.
Diese heftige Reaktion auf die jüngste Entwicklung der modernen Physik kann man nur verstehen, wenn man erkennt, daß hier die Fundamente der Physik und vielleicht der Naturwissenschaft überhaupt in Bewegung geraten waren, und daß diese Bewegung ein Gefühl hervorgerufen hat, als würde der Boden, auf dem die Naturwissenschaft steht, uns unter den Füßen weggezogen. Gleichzeitig bedeutete es aber doch wohl auch, daß man noch nicht die richtige Sprache gefunden hatte, in der man über die neue Situation sprechen konnte, und daß3 die ungenauen und zum Teil unkorrekten Behauptungen, die hier und dort in der Begeisterung über die neuen Entdeckungen veröffentlicht worden sind, alle Arten von Mißverständnissen hervorgerufen haben. Hier handelt es sich in der Tat um ein schwieriges, grundsätzliches Problem.
Die verbesserte experimentelle Technik unserer Zeit bringt ganz neue Seiten der Natur in das Blickfeld der Naturwissenschaft, Seiten, die mit den Begriffen des täglichen Lebens oder auch nur der früheren Physik nicht beschrieben werden können. Aber in welcher Sprache sollten sie dann beschrieben werden? Die erste Sprache, die aus dem Prozeß der wissenschaftlichen Klärung gewonnen wird, ist in der theoretischen Physik gewöhnlich eine mathematische Sprache; nämlich das mathematische Schema, das den Physikern erlaubt, die Resultate zukünftiger Experimente vorherzusagen.
Der Physiker mag damit zufrieden sein, daß er das mathematische Schema besitzt und weiß, wie er es für die Deutung seiner Versuche anwenden kann. Aber er muß über seine Ergebnisse ja auch zu Nichtphysikern sprechen, die nicht zufrieden sind, solange ihnen nicht eine Erklärung auch in der gewöhnlichen Sprache gegeben wird, in einer Sprache, die von jedermann verstanden werden kann. Auch für den Physiker ist die Möglichkeit einer Beschreibung in der gewöhnlichen Sprache ein Kriterium für den Grad des Verständnisses, das in dem betreffenden Gebiet erreicht worden ist.
In welchem Umfange ist eine solche Beschreibung überhaupt möglich? Kann man z.B. über das Atom selbst sprechen? Das ist ebensosehr ein sprachliches wie ein physikalisches Problem, und daher müssen zunächst einige Bemerkungen über die Sprache im allgemeinen und insbesondere über die wissenschaftliche Sprache eingeschoben werden.
Die Sprache ist in einer prähistorischen Zeit von der menschlichen Rasse gebildet worden als ein Mittel zur Verständigung und als Grundlage für das Denken. Wir wissen wenig über die verschiedenen Schritte zu ihrer Bildung. Aber jedenfalls enthält die Sprache jetzt eine große Anzahl von Begriffen, die als ein zweckmäßiges Werkzeug für eine mehr oder weniger unzwei-deutige Verständigung über Vorgänge des täglichen Lebens betrachtet werden können. Diese Begriffe sind allmählich durch den Gebrauch der Sprache ohne kritische Analyse erworben worden, und wenn wir ein Wort hinreichend oft gebraucht haben, so glauben wir mehr oder weniger genau zu wissen, was es bedeutet.
Natürlich ist es eine wohlbekannte Tatsache, daß die Wörter nicht so klar definiert sind, wie es im ersten Augenblick scheinen mag, und daß sie nur einen begrenzten Anwendungsbereich besitzen; z.B. können wir über ein Stück Holz oder ein Stück Eisen sprechen, aber wir können nicht über ein Stück Wasser sprechen. Das Wort Stück läßt sich nicht auf flüssige Körper anwenden. Oder um ein anderes Beispiel zu erwähnen: In Erörterungen über die Begrenzung von Begriffen pflegt BOHR gern die folgende Geschichte zu erzählen: Ein kleiner Junge kommt in einen Kaufladen mit einem Pfennig in seiner Hand und fragt: "Könnte ich für einen Pfennig gemischte Bonbons bekommen?" Der Kaufmann nimmt zwei Bonbons aus seinem Kasten, gibt sie dem Jungen und sagt: "Mischen kannst du sie dir selber."
Ein etwas ernsthafteres Beispiel für die problematische Beziehung zwischen den Wörtern und den Begriffen ist die Tatsache, daß die Worte rot und grün auch von Leuten verwendet werden, die farbenblind sind, obwohl hier offensichtlich die Anwendungsgrenzen dieser Wörter für den Farbenblinden ganz anders verlaufen müssen als für andere Leute. Diese prinzipielle Unsicherheit in der Bedeutung von Worten ist natürlich sehr früh erkannt worden und hat den Wunsch nach Definitionen hervorgerufen; d.h., wie das Wort Definition sagt, nach dem Festsetzen von Grenzen, die bestimmen, wo das Wort verwendet werden kann und wo nicht. Aber Definitionen können natürlich nur mit Hilfe anderer Begriffe gegeben werden und schließlich muß man sich doch auf einige Begriffe verlassen, die genommen werden, so wie sie sind, unanalysiert und undefiniert.
In der griechischen Philosophie war das Problem der Begriffe in der Sprache eines der wichtigsten Themen seit SOKRATES, dessen Leben, wenn wir PLATOs künstlerischer Darstellung in seinen Dialogen folgen können, eine ständige Diskussion über den Inhalt der sprachlichen Begriffe und über die Grenzen unserer Ausdrucksmittel war. Um eine feste Grundlage für das wissenschaftliche Denken zu schaffen, hat es ARISTOTELES in seiner Logik unternommen, die Formen der Sprache zu analysieren, die formale Struktur von Schlüssen und Ableitungen unabhängig von ihrem Inhalt zu untersuchen. In dieser Weise hat er einen Grad von Abstraktion und Genauigkeit erreicht, der bis dahin in der griechischen Philosophie unbekannt war, und er hat dadurch im höchsten Maße zur Klärung beigetragen, zur Aufrichtung einer gewissen Ordnung in unserer Methode des Denkens. Er hat tatsächlich die Grundlage für die wissenschaftliche Sprache geschaffen.
Andererseits bringt die logische Analyse der Sprache auch die Gefahr einer zu großen Vereinfachung mit sich. In der Logik wird die Aufmerksamkeit auf spezielle sprachliche Strukturen gerichtet, auf unzweideutige Verknüpfungen zwischen Voraussetzungen und Folgerungen, auf einfache Muster des Schließens; alle anderen sprachlichen Strukturen werden vernachlässigt. Diese anderen Strukturen können sich z. B. durch Assoziationen zwischen gewissen Nebenbedeutungen von Wörtern ergeben; so kann etwa die sekundäre Bedeutung eines Wortes, die nur gewissermaßen im Halbdunkel durch unser Bewußtsein gleitet, wenn das Wort erklingt, doch wesentlich zum Inhalt eines Satzes beitragen.
Die Tatsache, daß jedes Wort viele nur halb bewußte Bewegungen in unserem Denken hervorrufen kann, mag dazu benützt werden, gewisse Seiten der Wirklichkeit deutlicher in der Sprache darzustellen, als es mit Hilfe der logischen Schlußverfahren möglich wäre. Daher haben sich die Dichter oft gegen diese übertriebene Betonung der logischen Schlußverfahren in Sprache und Denken gewandt, die dazu führen kann, daß die Sprache weniger geeignet wird für den Zweck, für den sie ursprünglich erdacht ist. Man kann hier z.B. an die bekannten Worte erinnern, die in GOETHEsFaustMEPHISTOPHELES an den Schüler richtet:
"Gebraucht der Zeit,Diese Stelle enthält eine bewundernswerte Beschreibung der Struktur der Sprache und eine berechtigte Kritik an der Enge der einfachen logischen Schlußverfahren.
Doch Ordnung lehrt
Mein teurer Freund,
sie geht so schnell von hinnen,
Euch Zeit gewinnen.
ich rat' Euch drum,
Zuerst Collegium logicum.
Da wird der Geist Euch wohl dressiert,
In spanische Stiefeln eingeschnürt,
Daß er bedächtiger so fortan
Hinschleiche die Gedankenbahn,
Und nicht etwa, die Kreuz und Quer’,
Irrlichteriere hin und her.
Dann lehret man Euch manchen Tag,
Daß, was Ihr sonst auf einen Schlag
Getrieben, wie Essen und Trinken frei,
Eins! Zwei! Drei! dazu nötig sei.
Zwar ist’s mit der Gedankenfabrik
Wie mit einem Weber-Meisterstück,
Wo ein Tritt tausend Fäden regt,
Die Schifflein herüber-hinüber schießen,
Die Fäden ungesehen fließen,
Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt:
Der Philosoph, der tritt herein
Und beweist Euch, es müßt so sein:
Das Erst’ wär’ so, das Zweite so
Und drum das Dritt' und Vierte so;
Und wenn das Erst' und Zweit' nicht wär',
Dritt’ und Viert' wär' nimmermehr.
Das preisen die Schüler allerorten,
Sind aber keine Weber geworden.
Wer will was Lebendigs erkennen und beschreiben,
Sucht erst den Geist herauszutreiben,
Dann hat er die Teile in seiner Hand,
Fehlt, leider! nur das geistige Band."
Andererseits muß die Naturwissenschaft ja auf die Sprache als das einzige Mittel zur Verständigung begründet werden, und daher müssen hier, wo das Problem der Unzweideutigkeit von der größten Wichtigkeit ist, die logischen Schlußverfahren ihre Rolle spielen. Die charakteristische Schwierigkeit an dieser Stelle kann vielleicht in der folgenden Weise beschrieben werden: In der Naturwissenschaft versuchen wir das Spezielle aus dem Allgemeinen abzuleiten; das Einzelphänomen soll als Folge einfacher allgemeiner Gesetze verstanden werden. Die allgemeinen Gesetze können, wenn sie sprachlich formuliert werden, nur einige wenige Begriffe enthalten, denn sonst wäre das Gesetz nicht einfach und allgemein.
Aus diesen Begriffen muß nun eine unendliche Vielfalt von möglichen Erscheinungen hergeleitet werden, und zwar nicht nur qualitativ und ungenau, sondern mit größter Genauigkeit hinsichtlich jeder Einzelfrage. Es ist unmittelbar einzusehen, daß die Begriffe der gewöhnlichen Sprache, ungenau und unscharf definiert, wie sie sind, niemals solche Ableitung zulassen könnten. Wenn aus gegebenen Voraussetzungen eine Kette von Schlüssen hergeleitet werden soll, so hängt die Anzahl der möglichen Glieder in der Kette von der Genauigkeit der Voraussetzungen ab. In der Naturwissenschaft müssen daher die Grundbegriffe in den allgemeinen Gesetzen mit äußerster Präzision definiert werden, und das ist nur mit Hilfe der mathematischen Abstraktion möglich.
Auch in anderen Wissenschaften kann sich eine ähnliche Lage ergeben, es können auch dort genaue Definitionen notwendig werden; z. B. in der Jurisprudenz. Aber hier braucht die Anzahl der Glieder in einer Schlußkette niemals sehr groß zu sein; daher ist eine völlige Präzision nicht notwendig, und einigermaßen genaue Definitionen mit Hilfe der Begriffe der gewöhnlichen Sprache sind meistens ausreichend.
In der theoretischen Physik versuchen wir, Gruppen von Erscheinungen zu verstehen, indem wir mathematische Symbole einführen, die zu den Tatsachen, nämlich zu den Ergebnissen von Messungen, in Beziehung gesetzt werden können. Für die Symbole gebrauchen wir Namen, die ihre Beziehung zur Messung sichtbar machen. Auf diese Weise sind also die Symbole mit der gewöhnlichen Sprache verknüpft. Dann aber werden die Symbole untereinander durch ein strenges System von Definitionen und Axiomen verknüpft, und schließlich werden die Naturgesetze als Gleichungen zwischen den Symbolen ausgedrückt.
Die unendliche Vielfalt von Lösungen dieser Gleichungen entspricht dann der unendlichen Vielfalt einzelner Erscheinungen, die in diesem Gebiet der Natur möglich sind. In solcher Weise stellt das mathematische Schema die betrachtete Gruppe von Erscheinungen dar, soweit eben die Beziehung zwischen den Symbolen und den Messungen reicht. Diese Beziehung erlaubt dann auch, die Naturgesetze selbst in Begriffen der gewöhnlichen Sprache auszudrücken, da unsere Versuche, die aus Handlungen und Beobachtungen bestehen, immer in der gewöhnlichen Sprache beschrieben werden können.
Allerdings: mit dem Prozeß der Erweiterung unserer wissenschaftlichen Kenntnisse erweitert sich auch die Sprache. Neue Begriffe werden eingeführt und die alten werden in einem weiteren Gebiet oder anders angewendet als bei ihrem Gebrauch in der gewöhnlichen Sprache. Solche Wörter wie Energie, Elektrizität, Entropie sind bekannte Beispiele. In dieser Weise entwickeln wir eine wissenschaftliche Sprache, die als eine natürliche Erweiterung der gewöhnlichen Sprache angesehen werden kann, eine Erweiterung, die zu den neugewonnenen wissenschaftlichen Gebieten paßt.
Im vergangenen Jahrhundert ist eine Anzahl neuer Begriffe in die Physik eingeführt worden, und in einigen Fällen hat es eine beträchtliche Zeit gebraucht, bevor die Physiker sich wirklich an den Gebrauch dieser neuen Begriffe gewöhnt haben. Der Begriff elektromagnetisches Feld z.B., der bis zu einem gewissen Grad schon in FARADAYs Arbeiten enthalten war und der später die Grundlage für die MAXWELLsche Theorie bildete, allmählich in Gebrauch bei den Physikern, die vorher ihre Aufmerksamkeit in erster Linie auf die mechanische Materie gerichtet hatten. Die Einführung dieses Begriffes war eben mit einer Änderung der wissenschaftlichen Grundvorstellungen verknüpft, und solche Änderungen können nie leicht vollzogen werden.
Trotzdem bildeten alle die Begriffe, die bis zum Ende des vergangenen Jahrhunderts in die Physik eingeführt worden waren, ein in sich geschlossenes System, das auf ein weites Feld von Experimenten angewendet werden konnte, und bildeten zusammen mit den früheren Begriffen eine Sprache, die nicht nur von den Wissenschaftlern, sondern auch von den Technikern und Ingenieuren mit Erfolg bei ihrer Arbeit angewendet werden konnte. Zu den grundlegenden Vorstellungen dieser Sprache gehörten die Annahmen, daß die Reihenfolge von Vorgängen in der Zeit völlig unabhängig sei von ihrer Anordnung im Raum, daß die EUKLIDische Geometrie im wirklichen Raum gelte, und Vorgänge in Raum und Zeit geschehen unabhängig davon ob sie beobachtet werden oder nicht.
Es wurde natürlich nicht bestritten, daß jede Beobachtung einen gewissen Einfluß auf die Erscheinung ausübt, die beobachtet werden soll, aber es wurde allgemein angenommen, daß man durch eine hinreichend vorsichtige Ausführung der Experimente diesen Einfluß schließlich beliebig klein machen könnte. Dies erschien in der Tat als eine notwendige Bedingung für die Verwirklichung des Ideals von Objektivität, das als die Grundlage für alle Naturwissenschaft galt.
In diesen einigermaßen friedlichen Zustand der Physik brach die Quantentheorie und die spezielle Relativitätstheorie ein als eine plötzliche, zunächst langsame und dann allmählich schneller werdende Bewegung in den Fundamenten der Naturwissenschaft. Die ersten heftigen Diskussionen entflammten sich an den Problemen von Raum und Zeit, die durch die Relativitätstheorie aufgeworfen worden waren. Wie sollte man über die neue Situation sprechen? Sollte man sagen, daß die Struktur von Raum und Zeit wirklich verschieden war von der, die man früher angenommen hatte, oder sollte man nur sagen, daß die experimentellen Ergebnisse bei ihrer theoretischen Deutung mathematisch in einer solchen Weise verknüpft werden sollten, wie es dieser neuen Struktur entsprach, während Raum und Zeit als die allgemeinen Anschauungsformen, in denen wir die Welt wahrnehmen, bleiben, was sie immer gewesen sind.
Das wirkliche Problem hinter diesen vielen strittigen Fragen war die Tatsache, daß es keine Sprache gab, in der man widerspruchsfrei über die neue Situation reden konnte. Die gewöhnliche Sprache beruhte ja auf den alten Begriffen von Raum und Zeit, und diese Sprache allein bildete das Mittel zu einer unzweideutigen Verständigung über die Anordnung und die Ergebnisse von Messungen. Gleichzeitig aber zeigten die Experimente, daß die alten Begriffe nicht überall angewendet werden konnten.
In der allgemeinen Relativitätstheorie hat sich die Sprache, in der wir die allgemeinen Gesetze beschreiben, weitgehend der wissenschaftlichen Sprache der Mathematiker angepaßt, und für die Beschreibung der Versuche selbst verwendet man wie immer die gewöhnlichen Begriffe, da ja die Euklidische Geometrie in kleinen Dimensionen mit genügender Genauigkeit gilt. Das schwierigste Problem hinsichtlich des Gebrauchs der Sprache wird aber durch die Quantentheorie gestellt.
Hier gibt es zunächst keinen einfachen Leitfaden, der uns erlaubte, die mathematischen Symbole mit den Begriffen der gewöhnlichen Sprache zu verknüpfen. Das einzige, was man zunächst weiß, ist die Tatsache, daß unsere gewöhnlichen Begriffe auf die Struktur des Atoms nicht angewendet werden können. Wieder würde man als den naturgegebenen Ausgangspunkt für die physikalische Deutung des Formalismus die Tatsache ansehen können, daß das mathematische Schema der Quantenmechanik dem der klassischen Mechanik sich in Dimensionen annähert, die groß sind verglichen mit der Ausdehnung der Atome. Aber selbst diese Behauptung kann nur mit einigen Vorbehalten ausgesprochen werden.
Auch in großen Dimensionen gibt es viele Lösungen der quantentheoretischen Gleichungen, zu denen analoge Lösungen im Gebiet der klassischen Physik nicht gefunden werden können. In solchen quantentheoretischen Lösungen würde die früher besprochene Interferenz der Wahrscheinlichkeiten in Erscheinung treten, die es in der klassischen Physik gar nicht gibt. Deshalb ist selbst im Grenzfall sehr großer Dimensionen die Beziehung zwischen den mathematischen Symbolen auf der einen, den Messungen und den gewöhnlichen Begriffen auf der anderen Seite keineswegs trivial. Um zu einer solchen eindeutigen Beziehung zu gelangen, muß man noch einen zweiten Zug des Problems in Betracht ziehen.
Man muß berücksichtigen, daß das System, das nach den Methoden der Quantenmechanik behandelt werden soll, in Wirklichkeit ein Teil eines sehr viel größeren Systems evtl. der ganzen Welt ist. Es steht in Wechselwirkung mit diesem größeren System, und wir müssen hinzufügen, daß die mikroskopischen Eigenschaften des größeren Systems wenigstens in einem erheblichen Umfang unbekannt sind. Diese Formulierung beschreibt zweifellos die praktisch vorliegende Situation richtig; denn das System könnte gar nicht der Gegenstand von Messungen und theoretischen Untersuchungen sein, es würde tatsächlich überhaupt nicht zur Welt der Erscheinungen gehören, wenn keine Wechselwirkung es mit einem größeren System verbände, von dem der Beobachter ein Teil ist.
Die Wechselwirkung mit diesem größeren System mit seinen weitgehend unbekannten mikroskopischen Eigenschaften führt dann ein neues statistisches Element in die Beschreibung ein - und zwar sowohl in die quantentheoretische als auch in die klassische Beschreibung -, das bei dem betrachteten System berücksichtigt werden muß. Im Grenzfall großer Dimensionen zerstört dieses statistische Element die Wirkung der Interferenz der Wahrscheinlichkeit in einem solchen Maße, da5 jetzt das quantenmechanische Schema sich wirklich dem der klassischen Physik annähert.
An dieser Stelle kann man daher eine eindeutige Verbindung zwischen den mathematischen Symbolen der Quantentheorie und den Begriffen der gewöhnlichen Sprache herstellen, und diese Beziehung genügt auch tatsächlich für die Deutung der Versuche. Was übrig bleibt, sind Probleme, die wieder eher die Sprache als die Tatsachen betreffen, da es ja zu dem Begriff Tatsache gehört, daß sie in der gewöhnlichen Sprache beschrieben werden kann.
Aber die Probleme der Sprache sind hier doch sehr ernsthafter Natur. Wir wollen in irgendeiner Weise über die Struktur eines Atoms sprechen und nicht etwa nur über die Tatsachen - zu denen z.B. schwarze Punkte auf einer photographischen Platte oder Wassertröpfchen in einer Nebelkammer gehören. Aber wir können in der gewöhnlichen Sprache nicht über die Atome selbst reden.
Die Analyse kann nun in zwei ganz entgegengesetzten Richtungen fortgesetzt werden. Man kann entweder fragen, welche Sprechweise über die Atome sich in den dreißig Jahren seit der Formulierung der Quantenmechanik tatsächlich unter den Physikern eingebürgert hat. Oder man kann die Versuche zur Definition einer präzisen wissenschaftlichen Sprache beschreiben, die dem mathematischen Schema der Quantentheorie entspricht. Als Antwort auf die erste Frage kann man hervorheben, daß der Begriff der Komplementarität, der von Bohr in die Deutung der Quantentheorie eingeführt worden ist, die Physiker dazu ermutigt hat, lieber eine zweideutige, statt eine eindeutige Sprache zu benützen; also die klassischen Begriffe in einer etwas ungenauen Art zu gebrauchen, die zu den Unbestimmtheitsrelationen paßt, abwechselnd verschiedene klassische Begriffe zu verwenden, die zu Widersprüchen führen würden, wenn man sie gleichzeitig anwenden wollte.
So spricht man etwa über Elektronenbahnen, über Materiewellen und Ladungsdichte, über Energie und Impuls usw., bleibt sich dabei aber immer der Tatsache bewußt, daß diese Begriffe nur einen sehr begrenzten Anwen-dungsbereich besitzen. Sobald dieser vage und unsystematische Gebrauch der Sprache zu Schwierigkeiten führt, muß sich der Physiker in das mathematische Schema zurückziehen und dessen eindeutige Verknüpfung mit den experimentellen Tatsachen benützen. Diese Verwendung der Sprache ist in mancherlei Weise recht befriedigend, da sie uns an einen ähnlichen Gebrauch der Sprache im täglichen Leben oder in der Dichtung erinnert.
Wir stellen fest, daß die Situation der Komplementarität keineswegs auf die Welt der Atome beschränkt ist. Wir treffen sie etwa an, wenn wir über eine Entscheidung und über die Motive für unsere Entscheidung reflektieren, oder wenn wir die Wahl haben zwischen dem Genuß von Musik und der Analyse. Andererseits, wenn man die klassischen Begriffe ihrer Struktur in dieser Weise verwendet, so behalten sie immer eine gewisse Unbestimmtheit sie erwerben in ihrer Beziehung zur Wirklichkeit nur dieselbe statistische Bedeutung, wie etwa die Begriffe der klassischen Wärmelehre in ihrer statistischen Interpretation. Deshalb mag hier eine kurze Diskussion der statistischen Begriffe der Thermodynamik nützlich sein.
Der Begriff Temperatur in der klassischen Wärmelehre scheint einen objektiven Zug der Wirklichkeit zu beschreiben, eine objektive Eigenschaft der Materie. Im täglichen Leben ist es ganz leicht, mit Hilfe eines Thermometers zu definieren, was wir mit der Behauptung meinen, daß ein Stück Materie eine gewisse Temperatur habe. Aber wenn wir definieren wollen, was die Temperatur eines Atoms bedeuten könnte, so sind wir, selbst, wenn wir hierbei von der klassischen Physik ausgehen, in einer sehr viel schwierigeren Lage.
Tatsächlich können wir diesen Begriff Temperatur des Atoms nicht mit irgendeiner wohldefinierten Eigenschaft des Atoms in Verbindung bringen, sondern wir müssen ihn bis zu einem gewissen Grade mit unserer unzureichenden Kenntnis des Atoms verknüpfen. Wir können den Wert der Temperatur zu gewissen statistischen Erwartungswerten über die Eigenschaften des Atoms in Beziehung setzen, aber man wird zweifeln können, ob ein solcher Erwartungswert objektiv genannt werden sollte. Der Begriff Temperatur des Atoms ist nicht viel besser definiert als der Begriff mischen in der Geschichte über den kleinen Jungen, der gemischte Bonbons kaufte.
In ähnlicher Weise sind in der Quantentheorie alle klassischen Begriffe, wenn man sie auf das Atom anwendet, ebensowohl und ebensowenig definiert wie die Temperatur des Atoms, sie sind mit statistischen Erwartungen verknüpft; nur in seltenen Fällen können die Erwartungen nahezu an Sicherheit grenzen. Wieder ist es ähnlich wie in der klassischen Wärmelehre schwierig, die Erwartung objektiv zu nennen. Man mag sie eine objektive Tendenz oder Möglichkeit nennen, eine Potentia im Sinne der Aristotelischen Philosophie. In der Tat glaube ich, daß die Sprache, die bei den Physikern gebräuchlich ist, wenn sie über Atomvorgänge sprechen, in ihrem Denken ähnliche Vorstellungen hervorruft wie der Begriff Potentia.
So haben sich die Physiker allmählich wirklich daran gewöhnt, die Elektronenbahnen und ähnliche Begriffe nicht als eine Wirklichkeit, sondern eher als eine Art von Potentia zu betrachten. Die Sprache hat sich, wenigstens in einem gewissen Ausmaße, schon an die wirkliche Lage angepaßt. Aber es ist nicht eine präzise Sprache, in der man die normalen logischen Schlußverfahren benützen könnte; es ist eine Sprache, die Bilder in unserem Denken hervorruft, aber zugleich mit ihnen doch auch das Gefühl, daß die Bilder nur eine unklare Verbindung mit der Wirklichkeit besitzen, daß sie nur die Tendenz zu einer Wirklichkeit darstellen.
In den Experimenten über
Atomvorgänge haben wir mit Dingen und Tatsachen zu tun, mit Erscheinungen,
die ebenso wirklich sind wie irgendwelche Erscheinungen im täglichen
Leben. Aber die Atome oder die Elementarteilchen sind nicht ebenso wirklich,
sie bilden eher eine Welt von Tendenzen oder Möglichkeiten als eine
von Dingen und Tatsachen.
Literatur:
Werner Heisenberg, Physik und Philosophie, Stuttgart 1984